Magdalena Abraham-Diefenbach
Stand: 10.06.2020
Die Oder und der Basar
Immer wieder kommen an die Oder, nach Frankfurt und Słubice, Wissenschaftler*innen und Journalist*innen aus aller Welt und schauen sich jenes Gebilde an. Der Eine vergleicht gerade geteilte Städte und Grenzraumordnungen, die Andere fragt nach Änderungen der Straßennamen und lokaler Erinnerungskultur. Wenn man jeden Tag zwischen den beiden Seiten des Flusses pendelt, hier Karotten und dort Apfelsaft kauft, hier zum Zahnarzt und dort zum Friseur geht, dann werden der Blick aus der Distanz, wissenschaftliche Fragestellung und Auswertung schwierig. Es überlappen sich viele Schichten, Fragen, Ereignisse, die den Erfahrungshorizont, die Lebenswelt in einer Doppelstadt in zwei Ländern ausmachen. Erst wenn der Fremde fragt, ist man von den eigenen Antworten oft überrascht.
So war ich auch letztens überrascht, als ich auf die Frage einer Anthropologin aus Poznań antworten sollte, was mir am interessantesten in der Grenzstadt erscheine. Die Ambivalenz bzw. das Nebeneinander des Metaphysischen und der Basarmentalität. Das Große und das Kleine treffen hier auf eine besondere Art und Weise aufeinander. Und auch Kitsch, der bei diesem Aufeinandertreffen unvermeidlich ist.
Auch in der Zeit der sogenannten Corona-Krise kann man beides sehen, erfahren und spüren. Am 15. März 2020 verwandelte sich der zurzeit wenig Wasser führende Fluss wieder in eine Grenze zwischen den Welten, die die eine Seite vor dem Schlechten der anderen retten soll. Ein riesiges Dazwischen, ein Niemandsland, das nicht zu überqueren ist.
Bei Protesten gegen die Grenzschließung am 24. April hörte man zugleich die „Ode an die Freude“ und die laute Parole „Lasst uns rein“. Der Kreisel an der Grenzbrücke auf der Słubicer Seite wurde blockiert. Der Fluss plätschert panta rhei, die Füße stampfen: Wir wollen Brot.

Das Gefühl, gefangen zu sein
Auf einmal ist der Fluss wie ein tiefer Graben rund um eine mittelalterliche Stadt. Auch wenn in einem Polizeiruf 110, ausgestrahlt am 3. Mai (gedreht im November letzten Jahres in Frankfurt und in Słubice), der verfolgte Protagonist problemlos über die Oder fliehen kann, so konnte ihm in der realen Welt von Corona kaum jemand folgen, es sei denn, er oder sie hätte sich dann in Polen für zwei Wochen in Quarantäne begeben. Für die meisten Einwohner ist der Fluss nun eine nicht überwindbare Barriere und eine in der Landschaft dominierende Wiedergabe des schwarzen Striches auf der Karte. Mit der Schließung der Grenze hat sich die Wahrnehmung des Flusses an sich verändert. Das Wasser wurde zur tatsächlichen Barriere und verstärkte das neue Gefühl, gefangen zu sein oder— in eine Stadt nicht eingelassen zu werden.
Grenze und Angst
In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, der Zeit der sogenannten „offenen“ Grenze zwischen der DDR und der VRP, gab es die Vielschichtigkeit der Motivationen und Interessen ebenso. Es gab Tausende polnische Berufspendler*innen, deutsch-polnische Ehen, Einkaufs-, Heimat-, und den „ganz normalen“ Tourismus. Es gab offizielle „verordnete“ Treffen verschiedener Berufsgruppen, der Pioniere und der Pfadfinder, gemeinsame Sommerfreizeiten oder Filmtage und Plakatausstellungen. Einige Deutsche sind sogar in polnische Kinos an der Grenze gegangen, um dort amerikanische Filme zu sehen. Fast jeder konnte sich etwas aussuchen.
So wie jetzt ein Europatag von einer städtischen Institution organisiert wird, so waren es auch damals verschiedene Akademien, Filmtage, Jugendfestivals, die deutsch-polnisch oder international die politische Botschaft transportierten.
So schnell wie damals, als 1981 die DDR-Regierung aus Angst vor der polnischen Aufbruchstimmung der Solidarność-Bewegung die Grenze geschlossen hat, so schnell wurde die Grenze aus Angst vor der raschen Verbreitung der Corona-Pandemie durch die polnische Regierung am 15. März 2020 geschlossen. Natürlich sind die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen 1981 und 2020 völlig anders. Das genauere Hinsehen auf dieses Muster im Vergleich kann uns aber über das deutsch-polnische Verhältnis und die Funktionen der Grenze viel sagen.
Die einzigartige Dynamik
Das aufgebaute Grenzregime ist unscheinbar, zwei Zelte, ein Geländewagen, ein paar Polizisten, Grenzschützer. Ein Mann in einer Art Kosmonauten-Uniform wirkt sogar wie aus einer alten polnischen Komödie entnommen. Dahinter steht aber die Warschauer Macht und die Angst vor dem Virus.
Bald gibt es zwar Ausnahmeregelungen, Verordnungen ändern sich. Die Einwohner*innen des Grenzlandes lesen die Seite des polnischen Gesundheitsministeriums wie ein Lokalnachrichtenblatt.
Die Schließung der Grenze kann man als ein großes soziales Experiment betrachten: Was geschieht, wenn man eine zusammenwachsende Region plötzlich mit einer Linie durchtrennt? In verschiedenen Phasen des Experiments kann man die Rahmenbedingungen ändern, je nachdem welche Frage man stellt. Man kann die Situation auch ähnlich wie eine Art große Messung verstehen: was bisher unsichtbarer Teil des Zusammenlebens war, wird nun sichtbar. Zum Beispiel, wie viele Kinder und Jugendliche auf einer Seite wohnen und auf der anderen in den Kindergarten, in die Schule gehen, studieren oder eine Ausbildung machen. Die Proteste der Eltern, die Bemühungen der Schuldirektor*innen machten sichtbar, was bisher nur in amtlichen Statistiken verzeichnet war. Die kilometerlangen Staus sind eine Visualisierung des deutsch-polnischen Verflechtungsraums. Die schnelle Infragestellung der Grenzschließung, die Proteste und die inzwischen deutliche Lockerung der Grenzsperrungen verdeutlichen, dass sich die Zeiten seit 1981 doch deutlich geändert haben und dass die Linie gegen das Geflecht auf Dauer nicht mehr zu bestehen vermag.
Der Arbeitsalltag an der Grenze
Egal, ob wir von einer Doppelstadt, einer geteilten Stadt oder von zwei Städten an der deutsch-polnischen Grenze sprechen, haben wir es mit einer städtischen Struktur zu tun, die nicht nur durch die Grenze, sondern auch andere urbane Entwicklungen und nun durch die Corona-Krise bedingt ist. Wenn man z.B. den Bereich „Arbeit“ nimmt, darf man sich nicht nur mit der Pendlerproblematik, den Auswirkungen der (teilweise) geschlossenen Grenze befassen, sondern auch allgemeine Veränderungen, die in diesem Bereich zurzeit der Krise beschleunigt werden: wie häusliche Arbeit oder Auswirkung von Abstandsregeln auf die Büroarbeit mitdenken. Wer bereits vor der Krise von zu Hause flexibel gearbeitet hat, den hat es – auch die Grenzschließung – nicht so hart getroffen wie diejenigen Personen, die es davor nicht taten, oder deren Beruf auf diese Art und Weise nicht ausgeübt werden kann. Mit dem raschen Wechsel der Arbeitsweise kam es für viele zu vielfältigen Veränderungen: der neue Arbeitsplatz, neue Kommunikationswege innerhalb der Organisation, möglicherweise ein neuer Arbeitsrhythmus. Die Arbeit muss man nicht nur in räumlichen, sondern auch zeitlicher Dimension denken – und hier ist die individuelle Situation jeder Person, jeder Familie oder Wohngemeinschaft anders: Wie viele Kinder und in welchem Alter zu betreuen sind, wie viele ältere, kranke Mitglieder der Gemeinschaft zu pflegen sind. Wie viele krisenbedingte Probleme auftreten: vom Einkommensverlust bis hin zu Depression. All das und viel mehr erfährt eine zusätzliche Dynamik durch die gesetzlichen – und sich auch im Laufe der Zeit ändernden – Rahmen, die die Durchlässigkeit der deutsch-polnischen Grenze bestimmen.
Historische Grenzen und historische Regionen
So habe ich als Wissenschaftlerin, die im Home Office arbeiten kann, einerseits die Möglichkeit, mich von den neuen territorialen Grenzziehungen unabhängiger zu machen, allerdings um den Preis, meine Arbeit zeitlich zu entgrenzen. Als Historikerin jedoch, die mit immobilen materiellen Zeugnissen arbeitet, bin ich wieder auf die Territorialität zurückgeworfen: Zunächst konnten wir – und die Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten, die nicht unbedingt einen Arbeitsvertrag haben, den sie an der Grenze zeigen können – drei Monate lang nicht zu unseren Untersuchungsobjekten gelangen.
Aktuell arbeite ich an einem Projekt zur Dokumentation der jüdischen Friedhöfe in der historischen Provinz Brandenburg in den Grenzen bis 1945 jenseits der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Grenze zwischen Deutschland und Polen. Zum Teil bin ich gedanklich in einer Welt, in der die deutsch-polnische Grenze woanders liegt und Frankfurt (Oder) eine Stadt auf beiden Oderseiten ist: die Synagoge steht im Zentrum von Frankfurt (Oder) und der jüdische Friedhof auf den „Judenbergen“ in der Dammvorstadt, heute Słubice. Die Beschäftigung mit historischen Regionen und historischen Grenzen, die seit Jahrzehnten nicht mehr existieren, weckt Reflexionen über Vergänglichkeit aller Grenzen – auch den „natürlichen“, wie der große Fluss eine zu sein scheint. Und gerade die Geschichte der Juden in der brandenburgischen Provinz ist eine Geschichte der Migration und Überschreitung der Grenzen. Es ist auch eine Geschichte, die sich zwischen der Berliner Metropole und der Provinz abspielt. Heute sind die Ideen einer zusammengehörigen Region zwischen Berlin und Poznań wieder aktuell und sichtbar in den politischen Entwürfen, die die deutsch-polnische Grenze quasi verschwinden lassen. Wie wird die Krise und die Schließung der Grenze diese Ideen beeinflussen?
Offene Grenze in der Dialektik der Antworten
Die Antworten auf die Frage nach der richtigen Reaktion auf die Verbreitung der Pandemie laufen oft auf ein Entweder-Oder zu. Entweder schützen wir die Schwächeren und riskieren negative wirtschaftliche Folgen oder wir müssen einen gewissen Prozentsatz der Menschen sterben lassen, damit die Gesellschaft weiter so funktionieren kann wie bisher. Egal wie sehr man die Logik der Dichotomie in Frage stellen könnte, ist die Frage nach der Position der offenen oder geschlossen Grenze in diesem Gefüge zu stellen. Die Schließung der Grenze gehört eindeutig zur Lock-Down-Strategie. In wieweit ist es Angst-, inwieweit Schutz-Rhetorik? Inwieweit überlappen sich Grenz-Rhetorik(en) mit den Corona-Diskursen in Hinblick auf Begriffe wie Angst, Schutz, Bedrohung?
An den Grenzen treffen sich letztendlich und ganz konkret die Strategien der Nationalstaaten im Umgang mit der Corona-Pandemie und hier wird eine gewisse Konkurrenz als Konkurrenz der Nachbarn – oder als Zusammenarbeit und Zusammenhalt – gelebt.
Keine Zeit für Fußnoten
Wichtiger als die räumliche Grenze in der Zeit der Corona-Krise scheinen mir die zeitlichen Grenzen zu sein. Als Wissenschaftlerin und Mutter von drei kleinen Kindern stoße ich jeden Tag an die Grenzen des Machbaren. Das, was vor der Zeit der geschlossenen Schulen und Kindergärten oder den für zwei Stunden pro Woche pro Kind „geöffneten“ Schulen noch machbar war, ist jetzt nicht mehr zu bewältigen. Artikel in der Nacht zu schreiben, Online-Aufgaben für Studierende vorzubereiten, Drittmittelprojekte zu koordinieren – das war davor schon schwierig, jetzt gibt es aber wirklich keine Zeit für Fußnoten.
Die zeitlichen Grenzen führen uns zu den Fragen der Aufgabenverteilung in der Gesellschaft, zu den Fragen des Zusammenhalts und der Gerechtigkeit. Aber auch zu Fragen nach neuen Strukturen, nach einem neuen Wochenplan. Was bedeuten diese Fragen an einer territorialen Grenze?
Dr. Magdalena Abraham-Diefenbach ist Akademische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Denkmalkunde an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) sowie Vorstandvorsitzende des Vereins Institut für angewandte Geschichte – Gesellschaft und Wissenschaft im Dialog e.V.
Ein Kommentar zu “Corona mit Blick auf und über die Oder”
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