Carolin Leutloff-Grandits
Stand: 18. Juni 2020
Die „Corona-Krise“ hat innerhalb der EU zu weitgehenden Schließungen von Staatsgrenzen geführt. Gleichzeitig gab und gibt es durch die Corona-Krise und den damit verbundenen Lock-Down des gesellschaftlichen Lebens eine unübersichtliche Anzahl interner Grenzziehungen und Exklusionen. Denn auch wenn die Gefahr, sich mit dem Virus anzustecken oder potentiell ein Überträger der Krankheit zu sein, jeden trifft und dies den Anschein erweckt, wir seien vor Corona „alle gleich“, wirkt sich die Bedrohung durch den Virus und der damit verbundene gesellschaftliche Lock-Down auf gesellschaftliche Teilgruppen ganz unterschiedlich aus. Differenzierungen ergeben sich entlang des Alters und Gesundheitszustandes, der Berufsgruppe, Familien- und Wohnsituation, oder auch aufgrund des Aufenthaltsstatus. Eine Gruppierung, die in besonderem Maße von der Corona-Krise und den damit einhergehenden Schließungen der Staatsgrenzen, und dem gesellschaftlichen Lock-Down betroffen ist, sind Geflüchtete. Ein Blick auf die Situation von Geflüchteten in Zeiten von Corona zeigt, dass sie auf verfestigte Grenzen treffen, die zu verstärkten räumlichen, sozialen und temporalen Exklusionen aus der Gesellschaft führen [1].
Verstärkte Push Backs von Geflüchteten an EU-Außengrenzen und sinkende Asylzahlen in Deutschland
Zum einen haben die Corona-bedingten Schließungen der Staatsgrenzen die Durchlässigkeit dieser in Bezug auf Asylmigration verringert und zu härteren Maßnahmen gegenüber undokumentierten Grenzübertritten geführt. Auch wenn Asylbewerber*innen bei einem Grenzübertritt an den EU-Außengrenzen zumindest offiziell nicht abgewiesen und zurückgeschickt werden sollen, zeigen Berichte über brutale Push-Backs an der türkisch-griechischen Landesgrenze wie auch an der kroatisch-bosnischen Grenze – beides EU-Außengrenzen – eine andere Realität [2]. So verwundert es nicht, dass seit Beginn der Grenzschließung deutlich weniger Geflüchtete in Deutschland registriert wurden. Seit Beginn der Grenzkontrollen am 16. März bis zum 12. April registrierte die Bundespolizei nur insgesamt 45 Menschen, die bei der Einreise um Asyl baten, während im Januar, also vor der Corona-Krise, insgesamt 671 Asylsuchende registriert wurden [3]. Gleichzeitig sank die Anzahl der beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) eingereichten Asylanträge im April 2020 auf die Hälfte des Wertes im gegenüber dem Vorjahresmonat, und um 28 Prozent gegenüber dem Monat März – nicht zuletzt da das BAMF seinen Betrieb zeitweise weitgehend eingestellt hat. Anträge wurden (und werden) nur verzögert bearbeitet [4].

Gemeinschaftsunterkünfte als Orte der Exklusion und des Ausnahmezustands
Aber auch Geflüchtete, die schon in Deutschland registriert sind und sich im laufenden Asylverfahren befinden, sind von Corona und dem Lock-Down im besonderen Maße betroffen. In Gemeinschaftsunterkünften und Erstaufnahmeeinrichtungen, in denen allein in Berlin ca. 20.000 Geflüchtete wohnen, können Hygiene- und Abstandsregeln oft aufgrund von Mehrbettzimmern und gemeinschaftlich genutzten sanitären Anlagen und Küchen nicht eingehalten werden [5]. Dadurch sind Bewohner*innen einem erhöhten Ansteckungsrisiko ausgesetzt. Es ist daher nicht überraschend, dass sich in diversen Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete gleich ein bedeutender Teil der Bewohner*innen angesteckt hatten – so Anfang Mai im brandenburgischen Hennigsdorf, wo in einer mit 400 Personen belegten Unterkunft bei 216 Personen der Corona-Virus festgestellt wurde [6], oder jüngst in einer mit 407 Menschen belegten Unterkunft im Berliner Stadtteil Buch, indem 28 Infizierte verzeichnet wurden [7]. In Unterkünften, in denen Corona-Fälle registriert wurden, gelten für alle Bewohner*innen strenge Quarantäne-Maßnahmen, so dass sie sich in den Gemeinschaftsunterkünften eingeschlossen und abgeschnitten fühlen [8]. In Hennigsdorf kam es hier sogar zu Ketten-Quarantäne-Verordnungen, durch welche Bewohner*innen ihre Unterkunft für bis zu sechs Wochen nicht verlassen durften [9]. Wie von Giorgi Agamben [10] beschrieben, werden Flüchtlingsunterkünfte zunehmend zu einem Raum des Ausnahmezustands und der räumlichen Exklusion. Die Forderung, dass zumindest Personen aus Risikogruppen aus den Gemeinschaftsunterkünften ausziehen können, um sich angemessen vor Corona schützen, wurde bis heute nur teilweise umgesetzt. Stattdessen sollten in Berlin mit Corona infizierte Geflüchtete in speziellen Sammelunterkünften isoliert werden [11].
Zunehmender gesellschaftlicher Ausschluss Geflüchteter
Gleichzeitig werden Geflüchtete auch durch Maßnahmen des gesellschaftlichen Lock-Downs vermehrt aus dem gesellschaftlichen Leben exkludiert – und dies obwohl der Staat von Migrant*innen zunehmend sogenannte individuell zu erbringende „Integrationsleistungen“ einfordert, um den Aufenthaltsstatus zu verfestigen [12]. Seit der Schließung von Schulen und Kindergärten haben viele geflüchtete Kinder keinen oder kaum mehr Kontakt zur Mehrheitsgesellschaft und sind aus ihrem deutschsprachigen Umfeld herausgerissen. Eltern können bei Schulaufgaben oft wenig helfen, in Gemeinschaftsunterkünften gibt es kaum Rückzugsräume für Home-Schooling und z.T. mangelt es an Zugang zum Internet und digitalen Medien. Aber auch für geflüchtete Erwachsene stellt sich der Besuch von Deutschkursen oder die Aufnahme oder Weiterführung einer Lohnarbeit im Moment als sehr schwierig dar. Da Besucher*innen und Ehrenamtliche zum Schutz vor einer möglichen Einschleppung des Virus die Gemeinschaftsunterkünfte nicht mehr betreten dürfen, verstärkt dies den gesellschaftlichen Ausschluss Geflüchteter, zumal z.T. Hausaufgabenbetreuung oder auch Sprachkurse und Hilfsstellungen bei bürokratischen Belangen, welche Ehrenamtliche anbieten, oft wegfallen. Auch wenn zivilgesellschaftliche Solidarnetzwerke versuchen, diesen Problemlagen durch digitale Hilfsangebote entgegenzutreten, führt der Lock-Down oft zu einem Stillstand oder sogar einem Rückschritt in Bezug auf Deutschkenntnisse oder auf die Integration in den Arbeitsmarkt. Dies kann sich für einzelne Geflüchtete wiederum negativ auf die Verfestigung des Aufenthaltsstatus auswirken.
Keine Öffnung des Arbeitsmarktes gegenüber Asylbewerber*innen
Der von einigen Politikern kurz nach dem Lock-Down vorgebrachte Vorschlag, die im laufenden Asylverfahren befindlichen Geflüchteten als Erntehelfer*innen einzusetzen, hätte zumindest vordergründig eine partielle Arbeitsmarktintegration ermöglicht. Dieser Vorschlag wurde allerdings u.a. vom bayrischen Flüchtlingsrat kritisiert, da sich die Arbeitserlaubnis nur auf die saisonale Erntearbeit bezogen hätte [13]. Eine allgemeine Arbeitserlaubnis für Asylbewerber*innen wurde von der Bundesregierung abgelehnt, da man befürchtete, dass dann möglicherweise auch Menschen ohne legitimen Fluchtgrund das Recht auf Arbeit erhalten. Die Politik hat daher den aus dem EU-Ausland kommenden, schon bewährten Saisonarbeiter*innen den Vorzug gegeben – auch wenn dafür die geschlossenen Staatsgrenzen partiell geöffnet werden mussten. Während diese Migrant*innen eingeflogen werden, um die deutsche Wirtschaft und damit das gesellschaftliche System zu stützen, bleiben viele der in Deutschland lebenden Geflüchteten für die Gesellschaft „wertlos“ – zumindest was ihre Verwertung für den Arbeitsmarkt angeht. Dies könnte man – nach Norbert Cyrus und Dita Vogel – auch als „non-integration policy“ gegenüber Geflüchteten bezeichnen [14].
Quo vadis? Verstärkung der Exklusion Geflüchteter oder Inklusion durch Gegenmaßnahmen?
Wenn wir aus einer Grenz- und Ordnungsperspektive auf die Situation von Geflüchteten in Zeiten von Corona blicken, ist also feststellbar, dass Corona die teilweise schlechten Wohn- und Arbeitsbedingungen von Migrant*innen wie auch ihre soziale und räumliche Marginalisierung innerhalb der deutschen Gesellschaft verstärkt. Für Geflüchtete verfestigen sich zur Zeit die inneren Barrieren, auf die sie in Deutschland treffen, auch wenn sie die Staatsgrenzen längst überwunden haben. Durch den gesellschaftlichen Lock-Down haben sich aber auch gesamtgesellschaftliche Realitäten bedeutend verändert: die wirtschaftliche Rezession und der damit verbundene Anstieg der Arbeitslosenquote [15] wird Konkurrenz um Arbeitsplätze und um soziale Leistungen verstärken. Migrant*innen geraten hier schnell ins Visier rechter Parteien, die den Kampf entlang von Grenzlinien der nationalen Zugehörigkeit und des kulturellen Othering austragen. Um dieser Dynamik entgegenzusteuern, braucht es kreative Maßnahmen und öffentliches Interesse. Es ist Aufgabe der Gesellschaft und der Politik, Geflüchteten die Möglichkeit zu eröffnen, sich angemessen vor Corona zu schützen und sich gleichzeitig in das gesellschaftliche System zu integrieren.
PD. Dr. Carolin Leutloff-Grandits ist Vertreterin des Lehrstuhls für Wirtschafts- und Sozialgeographie und wissenschaftliche Koordinatorin Grenzforschung (temporär vertreten) am Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION an der Europa-Universität Viadrina.
[1] Schiffauer, W./Koch, J./Reckwitz, A./Schoor, K., & Krämer, H. (2018): Borders in Motion: Durabilität, Permeabilität, Liminalität. Working Paper Series B/ORDERS IN MOTION Nr. 1., Frankfurt (Oder): Viadrina, doi:10.11584/B-ORDERS.1.
[2] Siehe https://www.borderviolence.eu/ oder auch https://monde-diplomatique.de/shop_content.php?coID=100156, 05.06.2020.
[3] https://www.mdr.de/nachrichten/politik/inland/deutschland-laesst-asylsuchende-einreisen-100.html, 05.06.2020.
[4] Https://www.bamf.de/SharedDocs/Meldungen/DE/2020/20200417-asylgeschaeftsstatistik-april.html?nn=284830, 25.05.2020.
[5] https://fluechtlingsrat-berlin.de/presseerklaerung/07-04-2020-menschenleben-schuetzen-massenunterkuenfte-aufloesen-wohnungen-statt-lager/, 05.06.2020; siehe auch Claudia Böhme, Anett Schmitz: Das Grenzparadigma „Flüchtlingslager“: Formen neuer Grenzpraktiken, in: http://cbs.uni-gr.eu/de/ressourcen/borderobs, 05.06.2020.
[6] https://taz.de/Corona-in-Hennigsdorfer-Fluechtlingsheim/!5681127/, 05.06.2020.
[7] https://www.morgenpost.de/bezirke/pankow/article229163120/28-Corona-Faelle-in-Fluechtlingsheim-in-Berlin-Buch.html, und https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/mindestens-16-corona-faelle-in-fluechtlingsheim-in-berlin-buch-li.84094, 05.06.2020.
[8] Flüchtlingsunterkünfte in Quarantäne: „Sie fühlen sich abgeschnitten“ Taz, https://taz.de/Fluechtlingsunterkuenfte-in-Quarantaene/!5678995/, 25.05.2020.
[9] https://www.rbb24.de/politik/thema/2020/coronavirus/beitraege_neu/2020/05/brandenburg-fluechlingsheime-ketten-quarantaenen.html, 05.06.2020.
[10] Agamben, G. (1998). Homo sacer: Sovereign power and bare life. Stanford: Stanford
University Press. Agamben, G. (2005). State of exception. Chicago: University of Chicago Press.
[11] https://www.tagesspiegel.de/berlin/berliner-senat-plant-eigenes-tempohome-mit-dem-coronavirus-infizierte-fluechtlinge-werden-in-pankow-untergebracht/25692550.html, 05.06.2020.
[12] Will A.-K. (2018): On “Genuine” and “Illegitimate” Refugees: New Boundaries Drawn by Discriminatory Legislation and Practice in the Field of Humanitarian Reception in Germany. Social Inclusion, 6 (3), S. 172-189.
[13] https://www.br.de/nachrichten/bayern/asylbewerber-als-erntehelfer-fluechtlingrat-uebt-kritik,Rw7IBve 25.05.2020.
[14] Cyrus, N., & Vogel, D. (2005): Germany. in: J. Niessen, Y. Schibel, & Cressida Thompson (Hrsg.): Current Immigration Debates in Europe: A Publication of the European Migration Dialogue. DGB Bildungswerk.
[15] Weber, E. et al. (2020): Research Report Deutschland vor einer schweren Rezession: Der Arbeitsmarkt gerät durch Corona massiv unter DruckIAB-Kurzbericht, No. 7/2020, siehe https://www.econstor.eu/bitstream/10419/216723/1/kb202007.pdf, 05.06.2020.