Norbert Cyrus
Stand: 25.06.2020
Eine der Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19 Pandemie war die Schließung des Grenzübergangs auf der Stadtbrücke zwischen Frankfurt (Oder) und Słubice. Als die Schließung nach etwa drei Monaten in der Nacht vom 12. auf den 13. Juni 2020 endlich aufgehoben wurde, feierten die Bewohnerinnen der Doppelstadt spontan die Wiedereröffnung auf der Stadtbrücke. Dabei vergaßen die beiden Bürgermeister der Doppelstadt alle guten Vorsätze zur Einhaltung der weiterhin bestehenden Abstandsregeln und fielen sich in die Arme [1].
Das stellt einen Kontrast zur Grenzöffnung am 8. April 1991 dar, als die Vereinbarung zur visumsfreien Einreise polnischer Bürger*innen in die damalige Europäische Gemeinschaft in Kraft getreten war. Damals waren die ersten polnischen Fahrzeuge auf der deutschen Seite der Stadtbrücke mit Hasstiraden und Steinwürfen empfangen worden [2]. Zudem ist es auch ein Kontrast zum 1. Mai 2004, als die Stadtbrücke die Bühne für den europäischen und binationalen Festakt anlässlich des Beitritts der Republik Polen zur Europäischen Union gebildet hatte, der mit europäischer und nationaler Prominenz inszeniert worden war [3].
Im Jahr 2020 sieht sich der Frankfurter Oberbürgermeister René Wilke dagegen veranlasst, eine deutliche Botschaft an die nationalen Regierungen in Berlin und Warschau zu senden: „Wir möchten das nicht noch mal erleben. Die Oder ist genauso wenig Grenze wie die Spree oder die Weichsel“ [4].
Mit dieser kontrafaktischen Aussage – die auf eine nicht unrealistische aber erst noch herzustellende politische Zukunft verweist – steht der Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder) längst nicht mehr alleine da. Auch in anderen Doppelstädten betonten Bürgermeister*innen und Bewohner*innen, wie wichtig und selbstverständlich die Durchlässigkeit der nationalen Grenzlinie mit der Tschechischen Republik [5], Österreich [6], Schweiz [7] [8], Frankreich [9], Luxemburg [10], Belgien [11] und Dänemark [12] für sie (geworden) ist.
Hoffentlich werden wir nie wieder getrennt
Auch Bewohner*innen von Frankfurt (Oder) und Słubice hatten in der Zeit der Corona-bedingten Grenzabschottung wiederholt – und unter Einhaltung der Abstandsregeln – gegen die Aufspaltung ihrer Städte [13] protestiert [14]. Denn für viele Menschen stellte die plötzliche Trennung der etablierten und gelebten Verbindungen eine als unnötig empfundene Zumutung und Belastung dar [15]. Schmerzhaft zu spüren war diese Grenzschließung für Schüler*innen, Studierende, Gewerbetreibende und ihre Kund*innen, aber auch für Beschäftigte, die ihren Arbeitsplatz auf der anderen Seite des Flusses nicht mehr erreichen konnten [16].
Bei der Grenzöffnung sagte René Wilke: „Hoffentlich werden wir nie wieder getrennt“ [17]. Und er fügte an: „Ich hoffe ganz stark, dass wir hier heute auch das Signal aussenden: Das dürft ihr uns nicht nochmal antun. Ich hoffe, dass das in Warschau und Berlin ankommt“ [18]. Damit dieser Wunsch aber tatsächlich in Erfüllung geht, muss die Umsetzung dieser Hoffnung auch ernsthaft weiterverfolgt werden. Es bedarf guter Argumente, um die nationalen Regierungen davon zu überzeugen, dass es bei einer Pandemie weder nötig noch sinnvoll ist, die Doppelstadt zu spalten. Und es bedarf eines alternativen Vorschlags, wo im Falle einer Pandemie die räumlichen Grenzen für die dann als notwendig erachteten Maßnahmen temporär gezogen werden sollen.
Temporäre Krisengrenzen um Verflechtungsräume
In einem Beitrag zu diesem Blog habe ich vorgeschlagen, die temporären Krisengrenzen entlang der Ränder des Verflechtungsraums zu ziehen, den Frankfurt (Oder) und Słubice bilden [19]. Das Konzept des Verflechtungsraums, das aus der Regional- und Raumplanung stammt, hat inzwischen Eingang in politische Entscheidungsprozesse gefunden und dient als übergeordnetes Leitbild. Am 24. März 2020 hat die brandenburgische Europaministerin Katrin Lange angekündigt, bis Ende 2020 eine Strategie des Landes für die weitere Entwicklung des brandenburgisch-polnischen Verflechtungsraumes zu erarbeiten.
Mit dem „gemeinsamen Zukunftskonzept 2030“ soll eine Empfehlung des 1991 gegründeten „Raumordnungsausschusses der Deutsch-Polnischen Regierungskommission für regionale und grenznahe Zusammenarbeit“ [20] umgesetzt werden. „Das Konzept rückt die Regionen an der deutsch-polnischen Grenze, die im eigenen Land oftmals als Randgebiete wahrgenommen werden, in das Zentrum einer funktional verflochtenen, gemeinsamen Region mit großem Potenzial. Dabei geht es um die Kooperation der Metropolen dieses Raumes sowie vor allem um die Nutzung von Impulsen aus diesen Metropolen für die Entwicklung der weitgehend ländlich geprägten Räume dazwischen“ [21]. Das Gemeinsame Zukunftskonzept 2030 versteht unter dem deutsch-polnischen Verflechtungsraum allerdings ein sehr weites Gebiet, das von Wrocław bis Rostock und Koszalin bis Leipzig reicht (siehe Bild 1).

Nach den aktuellen Erfahrungen der Pandemie sollten auch die Planung und Umsetzung der Maßnahmen zum grenzüberschreitendenden Katastrophen- und Pandemiemanagement in das gemeinsame Zukunftskonzept 2030 aufgenommen und auf die lokale Ebene der Doppelstädte heruntergebrochen werden [22]. Nur so lässt sich sicherstellen, dass die Doppelstädte entlang der Oder im Falle erneuter Krisenlagen nicht wieder unnötig getrennt werden.
Lokale Maßnahmenräume
Dazu sollten lokale Maßnahmenräume unabhängig von administrativen Grenzen auf nationaler, föderaler oder kommunaler Ebene bestimmt werden. Dieser Ansatz entspricht der aktuellen politischen Entwicklung, die Entscheidung über die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie auf die kommunale Ebene von Städten und Landkreisen zu verlagern [23]. Es wäre dabei allerdings prinzipiell zweckmäßig, zur Festlegung des Gebietes, in dem jeweils die Entscheidungen über Infektionsschutzmaßnahmen gelten, von tatsächlich bestehenden Verflechtungen auszugehen bzw. darauf aufzubauen. Dass so ein funktional orientiertes Raumverständnis möglich und sinnvoll ist, zeigt das Beispiel des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV). Die Karte der Tarifzonen der Stadtverkehrsgesellschaft mbH Frankfurt (Oder) visualisiert die Zusammengehörigkeit von Słubice und Frankfurt (Oder) (siehe Bild 2).

Genauer zu bestimmen wäre dann aber, wo die Ränder eines Maßnahmenraumes genau verlaufen. Dazu könnte man sich an bereits bestehende Verfahren orientieren, die zum Beispiel in der Regionalplanung zur Bestimmung von Pendlerverflechtungsräumen angewandt werden: Dabei werden Pendlerbewegungen der sozialversicherungspflichtig versicherten Beschäftigten zwischen Wohnort und Arbeitsort, aber auch Kundenströme in Geschäfte und Kultureinrichtungen gemessen [24].
Flexible Krisengrenzen statt Verdichtung nationaler Grenzen
Um zukünftige unnötige Spaltungen einer Doppelstadt zu vermeiden, ist es einerseits erforderlich, dass die jeweiligen nationalen Regierungen den politischen Repräsentationen von Verflechtungsräumen die Kompetenz zur Etablierung eines gemeinsamen grenzüberschreitenden Maßnahmenraums für einen Krisenfall rechtlich zugestehen und dann auch akzeptieren. Ein Weg zur Ermöglichung eines gemeinsamen Krisen- und Pandemiemanagements in Grenzregionen könnte die Anwendung europäischer Rechtsinstrumente sein [25].
Auf Seiten der zuständigen, politisch verantwortlichen Instanzen auf kommunaler Ebene wiederum braucht es den Willen und die Bereitschaft, sich beim Infektionsschutz verbindlich abzustimmen. Auf dieser Basis könnte dann ein gemeinsamer Infektionsschutzplan entworfen werden, der eine harte Trennung der Bewohner*innen entlang der nationalen Grenze vermeidet. Die Ausarbeitung des gemeinsamen Infektionsschutzplanes würde dann auf Grundlage aktueller epidemiologischer und hygienischer Erkenntnisse und der Besonderheiten der grenzüberschreitenden Verflechtung erfolgen und laufend aktualisiert.
In der Corona-Krise scheint vielen Bewohner*innen in Grenzregionen vielleicht zum ersten Mal wirklich bewusst geworden zu sein, wie wertvoll und selbstverständlich offene Grenzen für ihre Lebensgestaltung sind. Diese Erfahrungen sollten der weiteren institutionellen Gestaltung grenzüberschreitender Verflechtungsräume Orientierung und Antrieb geben.
Dr. Norbert Cyrus ist Fellow am Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).
Referenzen
[1]https://www.rbb24.de/studiofrankfurt/panorama/2020/06/corona-polen-grenze-lockerung-frankfurt.html, 25.6.2020.
[2] https://www.mdr.de/heute-im-osten/video-22224.html, 25.6.2020.
[3] https://www.europa-uni.de/de/struktur/unileitung/pressestelle/mitschrift/uni_on/Uni_on_43.pdf, 25.6.2020.
[4] https://www.rbb24.de/studiofrankfurt/panorama/2020/06/corona-polen-grenze-lockerung-frankfurt.html, 25.6.2020.
[5] https://deutsch.radio.cz/tschechische-berufspendler-protestieren-grenze-zu-deutschland-8103065, 25.6.2020.
[6] https://www.spiegel.de/politik/ausland/corona-krise-die-probleme-zweier-grenzbuergermeister-a-4531a26e-693d-42f2-b4f9-84dcf71e094a, 25.6.2020.
[7] https://www.suedkurier.de/baden-wuerttemberg/druck-auf-seehofer-waechst-weiter-15-buergermeister-aus-suedbaden-fordern-die-sofortige-grenzoeffnung;art417930,10508480, 25.6.2020.
[8] https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/friedrichshafen/buergermeister-werten-grenzzaun-als-fehler-100.html, 25.6.2020.
[10] https://www.saarbruecker-zeitung.de/saarland/merzig-wadern/perl/corona-krise-buergermeister-von-perl-hofft-auf-schnelle-oeffnung-der-grenzen_aid-50201553, 25.6.2020.
[11] https://www1.wdr.de/nachrichten/rheinland/proteste-grenzkontrollen-belgien-100.html, 25.6.2020.
[12] https://www.nordschleswiger.dk/de/nordschleswig-tondern/oeffnet-grenze-hupkonzert-politiker-wachruetteln, 25.6.2020.
[13] https://www.rbb24.de/studiofrankfurt/panorama/coronavirus/beitraege_neu/2020/04/protestveranstaltungen-polnisch-deutsche-grenze.html, 25.6.2020.
[14] https://www.moz.de/landkreise/oder-spree/frankfurt-oder/artikel9/dg/0/1/1799500/, 25.6.2020.
[15] https://bordersinmotion-coronablog.com/2020/06/09/the-german-polish-border-re-bordering-and-the-pandemic-centers-vs-peripheries/, 25.6.2020.
[16] https://bordersinmotion-coronablog.com/2020/06/10/corona-mit-blick-auf-und-uber-die-oder/, 25.6.2020.
[17] https://www.moz.de/landkreise/oder-spree/frankfurt-oder/artikel9/dg/0/1/1808602/
[18] https://www.rbb24.de/studiofrankfurt/panorama/2020/06/corona-polen-grenze-lockerung-frankfurt.html, 25.6.2020.
[19] https://bordersinmotion-coronablog.com/2020/05/04/das-corona-virus-und-die-grenzforschung/. 25.6.2020.
[20] https://www.kooperation-ohne-grenzen.de/de/, 25.6.2020.
https://www.europa-uni.de/de/forschung/institut/institut_europastudien/covid19-blog4/index.html, 25.6.2020.
[21] https://mdfe.brandenburg.de/cms/detail.php/bb1.c.662241.de, 25.6.2020.
[22] https://www.kooperation-ohne-grenzen.de/de/instrumente-der-kooperation/doppelstaedte/, 25.6.2020.
[25] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/LSU/?uri=CELEX:32006R1082, 25.6.2020.