Zu den Corona-Thesen von Andreas Reckwitz
Gangolf Hübinger
Stand: 24. Juli 2020
Wie verändert die Corona-Krise die Lebensordnungen der Moderne? In Zeiten der Krise schlägt als erstes die Stunde der Krisendeuter. In Paris, nach wie vor die Hauptstadt der Intellektuellen, haben „Zeitdiagnosen und Hypothesen zur Zukunft“ Konjunktur, so die Zeithistorikerin Ingrid Gilcher-Holtey in der Frankfurter Rundschau [1]. Hinkt die deutsche Diskussion dem hinterher, in unkritischer Akzeptanz einer verordneten „neuen Normalität“ des gesellschaftlichen Lebens?
Die Intellektuellen-Kultur beider Länder ist zu verschieden, um zu einer einfachen Antwort zu gelangen. In Frankreich bündelt sich der Diskurs in hohem Maße in der Metropole. In Deutschland verläuft er eher dezentral und ohne die ständige Gefechtsbereitschaft der Intellektuellen gegeneinander, welche die Pariser Szene seit der Dreyfus-Affäre an der Kulturschwelle zum 20. Jahrhunderts auszeichnet. „Eingreifendes Denken“ [2] über die Folgen der Pandemie für das soziale und politische Ordnungsgefüge demokratischer Gesellschaften durchzieht seit diesem Frühsommer ohne Frage aber auch die deutsche Öffentlichkeit. Zu den wortmächtigsten Kombattanten zählt der Soziologe Andreas Reckwitz, der kürzlich von der Viadrina an die Humboldt-Universität zu Berlin gewechselt ist.
Der Staat erfindet sich neu
In Frankfurt (Oder) gehörte Andreas Reckwitz zu den Autoren des Gründungsdokumentes des Viadrina Centers B/ORDERS IN MOTION [3]. Das Gründungspapier konzentrierte sich noch ganz auf „Grenzforschung und die Border(land) Studies“. Die Corona-Krise zeigt nunmehr überdeutlich, wie sehr Grenzdiskurse eingebettet sind in Ordnungsdiskurse. Es scheint so, dass die kulturellen „Vorstellungen von der Geltung einer ,Ordnung’“ (Max Weber)[4] entscheidende Macht besitzen über Grenzziehungen in der Wirklichkeit wie in den Köpfen politischer Akteure. Gemeinsame europäische Krisenlösungen sind zwar angestrebt, werden aber zerteilt in Sprachbilder von selbstgerechten Westländern, von fordernden Südstaaten und von einem nationalstolzen Osten. Das sind Semantiken, die rund um den EU-Gipfel im Juli 2020 sofort ins Auge springen.
Welche „Vorstellungen von der Geltung einer ,Ordnung’“ verschaffen sich in der „Corona-Krise“ Gehör, die als eine geschichtliche Krise ersten Ranges angesprochen wird? „Geschichtliche Krisen“ sind für den Universalhistoriker Jacob Burckhardt Momente, in denen sich die „gepreßte Kraft“ sozialer Spannungen entlädt: „Der Weltprozeß gerät plötzlich in furchtbare Schnelligkeit“ [5]. In markanten Thesen zur Pandemie von 2020, mit dem rasanten Einbruch der Weltwirtschaft, der Erosion von Demokratien und den enormen Anforderungen an staatliches Handeln, widmet sich nun Andreas Reckwitz einer solchen „gepreßten Kraft“ gesellschaftlicher Spannungen in der Spätmoderne. Seine publizistischen Interventionen spitzen Erkenntnisse seiner Erfolgsbücher über die „Gesellschaft der Singularitäten“ und „Das Ende der Illusionen“ [6] zu. Exemplarisch greife ich einen Essay aus der Wochenschrift „Die Zeit“ vom Juni 2020 heraus, der die These im Titel trägt: „Verblendet vom Augenblick. Die Corona-Krise wurde panisch zum ungeheuren Epochenbruch stilisiert. In Wahrheit erleben wir etwas anderes: Der Staat erfindet sich gerade neu – indem er Risikopolitik betreibt“ [7].
Reckwitz ist mithin ein Verfechter der Brennglastheorie, die ich als Historiker teile. Die Corona-Krise erzeuge die Probleme nicht, sie zoome sie heran und müsse deshalb in den größeren Zusammenhang der „silent revolutions“ des späten 20. Jahrhunderts gestellt werden. Reckwitz´ Thesen gelten der sozialen Struktur, der historischen Entwicklung und den Chancen einer politischen Neuordnung.
Die Krise mache die „polarisierte Sozialstruktur“ der Spätmoderne sichtbar, welche in den westlichen Gesellschaften als Resultat eines tiefgreifenden ökonomischen, technologischen und kulturellen „Strukturwandels“ stattgefunden habe. Die beliebten Umfragen, ob die Menschen durch Corona zum Nachdenken über ihr Konsumverhalten angeleitet und zu nachhaltigeren Verhaltensweisen motiviert werden, führen demnach in die Irre, wenn sie nicht in den Rahmen des folgenschweren sozialen Wandels dieser letzten von drei großen „Epochenschwellen“ der Moderne gerückt werden.
Den Grundstein gelegt habe als erste Epochenschwelle in der frühen europäischen Moderne die industriell-politische Doppelrevolution. Die entscheidenden Weichen gestellt habe dann die zweite Schwelle der klassischen Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dort „entstanden in wenigen Jahrzehnten eine entfaltete Industriegesellschaft, ein organisierter Kapitalismus, eine Massendemokratie und eine urbane Massenkultur. Das war eine Entwicklung von höchster Rasanz und Experimentierfreude“. Die digitalisierte Spätmoderne, auf die Corona jetzt erbarmungslos den Schweinwerfer richte, sei „in vieler Hinsicht eine radikalisierte Moderne“ und hänge insofern als dritte Epochenschwelle mit der zweiten eng zusammen. Für die historischen Kulturwissenschaften eröffnet sich hier zur Wechselbeziehung von dynamischen Ordnungen und Grenzen ein ungebrochen aktuelles Forschungsfeld. Denn „entkommen wird man dieser Moderne wohl nicht so leicht“.
Angesichts wachsender sozialer Ungleichheit und prekärer Lebenslagen rückt für Reckwitz der „Staat“ als Leistungs- und Interventionsstaat ins Zentrum seiner Überlegungen zu den Lebensordnungen der Moderne. Aktuell erfordere die Krise eine dringende „Neujustierung der Aufgaben von Staatlichkeit“ gegenüber einem deregulierten globalen Kapitalismus. Corona zeige auf, „dass eine hochdynamisierte Gesellschaft in vollem Tempo eines Staates bedarf, der nicht noch weiter mobilisiert und dereguliert, sondern der stabilisiert und reguliert.“
Corona verschärfe jetzt eine Debatte um politische Paradigmen, „die auf entgegengesetzten Vorstellungen gesellschaftlicher Ordnungen beruhen: entweder auf dem Ideal einer Regulierung oder dem einer Dynamisierung von Ordnung.“ Schon vor dem Corona-Krisendiskurs hatte sich Reckwitz hier intellektuell positioniert und für einen „einbettenden“ oder „regulativen“ Liberalismus als westliches Zukunftsmodell ausgesprochen, für „eine Revitalisierung der öffentlichen Infrastrukturen von der Bildung über die Gesundheit und das Wohnen bis zum Verkehrswesen, eine Verringerung der Schere der Ungleichheit zwischen Prekärbeschäftigten und Superreichen sowie eine Abmilderung der ökonomischen Auseinanderentwicklung von Stadt und Land“ [8].
Von der Odergrenze aus betrachtet, provoziert die Frage nach den Antagonismen von Dynamisierung und Regulierung moderner Gesellschaften eine Anschlussfrage, die Reckwitz offen lässt. Es ist die nach den demokratischen Legitimierungen von staatlich regulierten Ordnungen, zu denen es nach Corona in der Tat verstärkt kommen wird. Wir werden in Zukunft rechts und links der Oder zweierlei Herrschaftstypen demokratischer Ordnung studieren können. Regionale Verflechtungen [9] können kaum verhindern, dass sich zwischen Polen und Deutschland gegensätzliche Vorstellungen von der Geltung einer demokratischen Ordnung in Europa verfestigen und dass sogar alte Narrative von „Ost“ und „West“ wiederbelebt werden. Auch das macht die Corona-Krise, in deren Zeichen in Polen ein heftiger Präsidentschaftswahlkampf geführt wurde und Deutschland turnusmäßig die EU-Ratspräsidentschaft übernahm, brennglasartig sichtbar.
Gegensätzliche Vorstellungen von der Geltung einer demokratischen Ordnung
Osten, Westen und Süden sind seit Corona wieder mehr als Himmelsrichtungen. Sie lassen sich zu politischen Narrativen aufladen, etwa wenn der polnische Botschafter in Berlin zu Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft dafür votiert, „daß es mehr Kredite für die Wirtschaft als geschenkte Zuschüsse für die EU-Staaten im Süden geben sollte“ [10]. Hier wird sorgsam darüber gewacht, dass der „Osten“ beim großen Geldverteilen zur Abfederung der Corona-Folgen gegenüber dem „Süden“ nicht zu kurz kommt und der „Westen“ sich mit Belehrungen zu liberalen europäischen Werten zurückhält.
Kann vor diesem Hintergrund das von Andreas Reckwitz umrissene Ordnungsmodell eines „regulativen Liberalismus“ dem demokratischen Zusammenhalt Europas dienen, oder ist das rein westlich gedacht und polarisiert die Demokratiediskurse, wenn es jetzt in der Bewältigung von Corona um die Neujustierung von Staatlichkeit geht? Für die Forschungseinrichtung einer „Europa-Universität“, die gezielt die Dynamiken von „Ordnungen und Grenzen“ untersucht, dürfte diese Frage zentral werden.
Krzysztof Wojciechowski, Direktor des Collegium Polonicum in Słubice und profunder Kenner der deutsch-polnischen Befindlichkeiten, sieht Polens Demokratie auf einem antiliberalen Eigenweg: „Sie haben eine Vision des Staates, und diese ist: Der Staat greift durch. Ein einfach gestrickter Staat, der den Hintern versohlt, wo ein Problem ist“, der aber auch eine erfolgreiche paternalistische Sozialpolitik betreibt [11].
Es scheint so, als müssen insbesondere zwei Grundprobleme aus der Geschichte der Moderne neu überdacht werden. Welche Ordnungsvorstellungen verbinden wir vorrangig mit „Demokratie“, und welche Aufgaben weisen wir immer noch (oder schon wieder) dem „Nationalstaat“ zu?
Zu „Demokratie“ bietet sich nach wie vor die knappe und bündige Definition des an Max Weber geschulten Soziologen M. Rainer Lepsius an: „Demokratie ist eine politische Ordnung, die durch intermediäre Strukturen Interessenpluralität und öffentliche Konfliktaustragung ermöglicht und individuelle Freiheitsspielräume institutionell sichert“ [12]. Nimmt man diese idealtypische Konstruktion zum Maßstab für eine Beurteilung der Demokratie in Europa, dann unterstreichen die prompten Reaktionen der herrschenden PiS-Partei auf die gewonnene Präsidentenwahl, dass für Polen darin keine Richtschnur für eine neu zu justierende Staatlichkeit gesehen wird. Die neue „Staatlichkeit“ im Post-Corona-Europa wird sich an gegensätzlichen Ordnungsvorstellungen orientieren.
Das westliche Ordnungsdenken richtet die für die Verarbeitung von Corona geforderte offensivere „Staatlichkeit“ im Sinne eines „regulativen Liberalismus“ an einem pluralistischen Demokratiekonzept mit freier öffentlicher Streitkultur aus. Für das dominierende Ordnungsdenken namentlich in Polen und Ungarn gilt es dagegen, diesen pluralistischen Typus von Demokratie mit unabhängiger Justiz, freien Medien und institutionellem Minderheitenschutz „vaterländisch“ zu überwinden. Der Prozess staatlicher und parteipolitischer Entdifferenzierung der Institutionen wird fortschreiten. Eine ehemalige Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte spricht mit Blick auf Rechtskultur, Geschichtspolitik und Lenkung der öffentlichen Meinung von einer „Umgestaltung des Systems“[13], welche das europäische Ordnungsdenken eher polarisieren als pluralisieren wird.
In Zeiten der Corona-Krise treten die europäischen Konfliktmuster deutlicher hervor. Die unterschiedlichen Erwartungen und Forderungen von Ost-, Süd- und Westeuropa stützen sich bei aller transnationalen Rhetorik auf die Idee des Nationalstaates, dem als oberste der sozialen Gemeinschaften die „`legitime´ Macht über Leben, Tod und Freiheit zugeschrieben“ wird (Max Weber). Der Nationalstaat erscheint unverzichtbar als bewährte „Ressourcengemeinschaft“[14], in der sich Partizipationsansprüche nach innen und Aggressionsbereitschaft nach außen wechselseitig verstärken. Am polnischen Präsidentschaftswahlkampf, mit starken sozialstaatlichen Verheißungen und heftigen Abgrenzungen gegenüber Deutschland, war das geradezu schulmäßig ablesbar.
Was folgt aus alledem für die These von Andreas Reckwitz, die „Neujustierung der Aufgaben von Staatlichkeit“ wird in den Post-Corona-Gesellschaften das dringlichste aller Probleme moderner Gesellschaften sein? Nach meiner Beobachtung allein der europäischen Konfliktlagen werden wir es nicht nur mit einer dualen Problemkonstellation von hochdynamischem Kapitalismus und regulierendem Staat zu tun haben. Es wird eine dreipolige Konstellation sein, deren Spannungen es zu balancieren gilt. In seiner Studie über die „Grundprobleme der Moderne“ beschreibt sie der Philosoph Otfried Höffe in Anlehnung an die ökonomische Globalisierungsdebatte als ein Gefüge von partizipatorischer Demokratie, eigenmächtigem Nationalstaat und hochentwickelter wirtschaftlicher Globalisierung. Diese konfliktträchtige Problemtrias beherrsche vom späten 19. Jahrhundert an bis heute unser Leben [15]. Die europäischen Intellektuellen als Ordnungsdenker der „silent revolutions“ wie als Krisendeuter der weltweit grassierenden Pandemie von 2020 werden sich vorrangig dieser Problemtrias stellen müssen. Wenn in der Krise die Stunde des Staates schlägt, dann sind sie als engagierte und kritische Beobachter der Dynamiken gefordert, welche sich aus den anstehenden Verteilungskämpfen um riesige Finanzsummen, Machtkämpfen um nationale Interessen und Kulturkämpfen um rechtsstaatliche Werte für die Neuordnung Europas in der Folge der Corona-Krise ergeben.
Prof. Dr. Gangolf Hübinger ist Viadrina Senior Fellow am Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION und Prof. i.R. für Vergleichende Kulturgeschichte der Neuzeit an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).
Referenzen
[1] Ingrid Gilcher-Holtey: Die Rückkehr des Ringens um die konkrete Utopie. Krise und Kritik – Debatte über die Zukunft in Frankreich, in: Frankfurter Rundschau Nr. 106 vom 7. Mai 2020, S. 23.
[2] Als zentrales Charakteristikum bei Ingrid Gilcher-Holtey: Eingreifendes Denken. Die Wirkungschancen von Intellektuellen, Weilerswist 2007.
[3] Werner Schiffauer, Jochen Koch, Andreas Reckwitz, Kerstin Schoor, Hannes Krämer: Borders in Motion: Durabilität, Permeabilität, Liminalität (Working Paper Series B/Orders in Motion, Nr. 1), Frankfurt (Oder) 2018.
[4] Zu Max Weber als historisch-soziologischem Ordnungsdenker vgl. Gangolf Hübinger: Europäische Ordnungsvorstellungen nach 1918. Theoretische Aspekte und exemplarische Fälle. Working Paper Series B/ORDERS IN MOTION Nr. 2, Frankfurt (Oder) 2019, bes. S. 8f.
[5] Hier zitiert nach Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Mit einem Nachwort von Jürgen Osterhammel, München 2018, S. 176.
[6] Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017, ders., Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019.
[7] Die Zeit Nr. 25 vom 10. Juni 2020, S. 45.
[8] Zitate aus Andreas Reckwitz: Ein Ordnungsruf. Nach einer langen Phase der Dynamisierung wird die Politik nach neuen Formen der Regulierung suchen müssen, in: Die Zeit Nr. 47 vom 14. November 2019, S. 55.
[9] Überzeugend zu regionalen Verflechtungen und nationaler Grenzpolitik Peter Ulrich und Jarosław Jańczak: Eigenlogik verflochtener Grenzräume, in: Märkische Oderzeitung vom 1. Juli 2020, S. 15.
[10] „Die eigene Sicherheit hatte Vorrang“. Warschaus Botschafter Andrzej Przłebski über Schlußfolgerungen, die die Regionen an Oder und Neiße aus der Corona-Krise ziehen sollten, den Präsidentschafts-Wahlkampf sowie US-Soldaten in seinem Land, Märkische Oder-Zeitung vom 3. Juli 2020, S. 4.
[11] „Das hat man in den schlimmsten Träumen nicht gedacht“. Der polnische Soziologe Krzysztof Wojciechowski beklagt die Aushöhlung des Rechtsstaats in seiner Heimat, sieht aber noch eine Chance, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 157 vom 10. Juli 2020, S. 2.
[12] M. Rainer Lepsius: Demokratie in Deutschland, Göttingen 1993, S. 7.
[13] Angelika Nußberger: Ein europäisches Trauerspiel. Rechtsstaat und Justiz in Polen, in: Forschung & Lehre Heft 5/2020, S. 418-420.
[14] Dieter Langewiesche: Nation als Resourcengemeinschaft. Ein generalisierender Vergleich, in: Reich, Nation, Föderation. Deutschland und Europa, München 2008, S. 36-52.
[15] Ottfried Höffe: Kritik der Freiheit. Das Grundproblem der Moderne, München 2015, S. 318-322.