J. Otto Habeck
Stand: 10.06.2021
Viele von uns haben die Eindrücke vom März 2020 noch in lebhafter Erinnerung: Sperrschilder auf Straßen und Brücken (Foto 1), Bilder von Grenzschützern und Polizeibeamtinnen, die an den großen und kleinen Übergängen zwischen Polen und Deutschland patrouillieren, und die Angst davor, bei der Überquerung der Staatsgrenze in Zwangsquarantäne genommen zu werden. Die Grenzerschützerinnen und Polizisten leisten ihren Beitrag zur Eindämmung der Pandemie, sie haben den Auftrag das Vaterland vor einer Infektion, metaphorisch gesprochen vor einer Invasion zu schützen. In Erinnerung bleiben auch die pandemiebedingt kleinen Demonstrationen, die die politischen Zentren zu einer Öffnung der Grenze für Pendler/innen aufforderten, wie beispielsweise am Grenzübergang Rosow/Rosówek am 24. April 2020 (Foto 2). Die grenzübergreifenden Alltagspraktiken und sozialen Netzwerke wurden jäh gekappt, die Pendlermobilität kam nahezu zum Erliegen – so auch im Großraum Szczecin und in den benachbarten Ortschaften auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland, die in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren einen beträchtlichen Zuzug von Familien aus Polen erlebt hatten.


Und heute? Mehrere Besuche im Mai 2021 führen den Autor dieses Beitrags zu der Feststellung, dass die martialischen Eindrücke bereits der Vergangenheit angehören. Die Regionalzüge zwischen Tantow und Szczecin fahren wieder nach Plan. Systematische Personenkontrollen finden nicht statt. Die Cafés und Restaurants an der Oder-Promenade in Szczecin haben wieder geöffnet, die Tagestourist/innen, denen ich begegnet bin, verhalten sich zumeist so, als sei nichts gewesen. Eine vorsichtige Erleichterung macht sich bemerkbar. Das Gatter am Fahrradweg von Pargowo nach Neurochlitz ist verschlossen; ein vor wenigen Monaten errichteter Zaun markiert die Grenze. Aber die Grenzer/innen und Polizist/innen sind verschwunden, der Zaun soll eine andere Pandemie aufhalten, nämlich die Afrikanische Schweinepest. Das Schild am Gatter mahnt: „Proszę zamykać przejście! Bitte Durchlass geschlossen halten!“ Das Gatter lässt sich nicht ohne weiteres öffnen, aber mit ein paar Handgriffen geht es doch – überdies legal. Wiedereinreise nach Deutschland.
20. Mai. Zu Besuch bei Alex Stolze im Gebäude des ehemaligen Bahnhofs Rosow. Alex Stolze ist Musiker, international bekannt und auch international vernetzt, weit über Polen und Deutschland hinaus. Vor der Grenzschließung waren abendliche Ausflüge in die Stettiner Kulturszene für ihn und seine Familie so etwas wie eine Selbstverständlichkeit. Smartphone und Internet werden über das polnische Netz betrieben (die Ankunft von high-speed internet von deutscher Seite lässt auf sich warten). Als die SIM-Card nicht mehr funktionierte, verabredete sich Alex mit einem Bekannten aus Szczecin zur Übergabe einer neuen SIM-Card an einem lauschigen Ort an der Grenze, doch das geplante Treffen wurde von einem Grenzer mit Waffe unterbunden. Die SIM-Card gelangte erst Tage später per Post nach Rosow. Alex beschreibt, dass er und seine Familie sich seit März 2020 wie auf einer Insel fühlten, jedoch keinesfalls isoliert: digitale Kommunikation gehörte schon früher zum Alltag und nahm in Pandemiezeiten eine größere Rolle ein. Diese Erfahrung betrifft wohl uns alle, die an diesem Blog mitwirken oder ihn lesen. Für Alex war es keine Zeit des Stillstands, sondern ein Jahr neuer Ideen und Projekte.
Mehrfach hatte ich Alex interviewt für ein sozialwissenschaftliches Forschungsprojekt, das 2016-2018 gemeinsam von Lehrenden und Studierenden der Universitäten Warschau und Hamburg durchgeführt wurde – auch in Zusammenarbeit mit dem RAA-Projektbüro perspektywa in Löcknitz in Mecklenburg-Vorpommern.
Diesmal jedoch interviewt Alex mich. Er bittet mich auf ein graziles Sofa im ausgebauten Dachgeschoss (Foto 3). Mit jungen Leuten aus der Region Schwedt/Oder – einige von ihnen sind Geflüchtete aus westafrikanischen Staaten – arbeiten Alex und das Team des World e.V. an einem Newsical mit dem Titel The Story of Wind. Für den Podcast fragt er mich nach meiner Einschätzung der Perspektiven dieser Region. In meiner Antwort spreche ich über die Divergenz der Erwartungen, die sich für unterschiedliche Gruppen ausmachen lassen – in der Zeit vor Corona.

Auf Alex‘ Frage, wie Integration in Dörfern wie Rosow gelingen kann, antworte ich mit dem Verweis auf diejenigen, für die Polnisch die Muttersprache ist und die sich in den deutschen Gemeinden und Ortschaften in der Freiwilligen Feuerwehr engagieren ebenso wie diejenigen, die nationalstaatliche Kategorisierungen zur Beschreibung ihrer eigenen Zugehörigkeit per se ablehnen. Und dennoch: viele der aus Polen zugezogenen Familien verfolgen nicht den Anspruch, mehr als nötig die nachbarschaftlichen Bande zu pflegen – der Arbeitsalltag, das Pendeln und der eigene Haushalt nehmen alle Zeit in Anspruch. Und auch manche der Alteingesessenen haben den Eindruck, dass die offiziellen Integrationsbemühungen und -appelle im lokalen Kontext nicht immer zielführend sind. Das waren einige der Einsichten aus dem Forschungsprojekt 2016-18.
Und nun? Inwieweit haben sich die Perspektiven durch die Pandemie und die Grenzschließung verändert? Inwieweit lassen sich grenzübergreifende Praktiken und Lebensprojekte unter den gegebenen Umständen aufrechterhalten? Alex und ich versuchen, die jüngsten Entwicklungen zusammenzufassen. Etwas anderes können wir nicht tun. Meine Warschauer Kollegin Agnieszka Halemba (vgl. ihren Post vom Mai 2020) und ich sind im Begriff, ein Folgeprojekt zu beantragen um die sozialen Dynamiken unter Corona (und hoffentlich nach Corona) zu untersuchen. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir lediglich einige Fragen formulieren und Hypothesen entwerfen, die es zu überprüfen gilt:
- Haushalte polnischer Familien, die grenzübergreifend agier(t)en, haben in Folge der Grenzschließung ebenso wie in Folge der Schulschließungen ihren Lebensmittelpunkt vermutlich wieder stärker nach Polen verlagert. Der jeweilige Haushalt auf der deutschen Seite wird zwar aufrechterhalten, aber die Selbstverständlichkeit der grenzübergreifenden Existenz ist geschwunden; die kognitive ebenso wie die materielle Signifikanz der Staatsgrenze hat zugenommen. War die Grenze vor 2020 in vielerlei Hinsicht eine Ressource im Kontext der eigenen Lebensführung, so ist sie jetzt eher eine Herausforderung, die die Umstellung der individuellen und familiären Strategien erfordert.
- Veränderungen ergeben sich auch in der Wahrnehmung des ländlichen Raums. Es kann sein, dass Personen, die Globalisierungs- und Migrationsprozesse eher als eine Bedrohung denn als Chance begreifen, sich während der Pandemie besonders stark auf ihre eigenen Ressourcen und gewohnten Netzwerke zurückgezogen haben. Sie sehen vermutlich die Abgeschiedenheit des ländlichen Raums insofern als Chance, dass er die Möglichkeit der Selbstversorgung oder sogar einer begrenzten Autarkie bietet.
- Die zahlenmäßig relativ geringe, aber durchaus sichtbare Gruppe von transnationalen Aktivist/innen sieht sich bestätigt in ihrer Ansicht, dass nationalstaatliche Regelungen und hauptstädtische Diskurse nicht immer mit ihren eigenen Wahrnehmungen und Ambitionen kompatibel sind. Insgesamt hat „gelebter“ grenzübergreifender Aktivismus scheinbar einen Rückschlag erhalten; aber zugleich verdeutlichen gerade die pandemiebedingten Beschränkungen die Notwendigkeit des grenzübergreifenden sozialen Engagements.
- Insgesamt werden Grenzen und Grenzziehungen in der Wahrnehmung der Personen, die in der Region leben, wieder präsenter. Dies betrifft nicht allein die polnisch-deutsche Grenze, sondern auch diejenige zwischen den Bundesländern Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern.

Der Besuch bei Alex Stolze und dem World-Team in Rosow verdeutlichte, dass in Phasen, die gesamtgesellschaftlich als Krise betrachtet werden, kreatives Potenzial nicht brach liegen muss (Foto 4). Noch etwas wurde deutlich. Wohnhaus und Tonstudio befinden sich in 50 Meter Entfernung zur Grenze zwischen Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, der Zufahrtsweg zum Haus berührt die Grenze, das Nachbargrundstück liegt bereits jenseits der Grenze. Für mich ist die Einreise nach Mecklenburg-Vorpommern als „Tagestourist“ offiziell untersagt (erst am 11. Juni 2021 wurde die Beschränkung aufgehoben). Bekannte berichten, dass die vielzähligen, sich verändernden Regelungen auf staatlicher und regionaler Ebene zu einer Verunsicherung führen: was geht schon wieder, was geht nicht?
Die Grenze ist in der Landschaft unsichtbar, aber sie existiert. Die Reise für einen Tagesaufenthalt in die Woiwodschaft Westpommern (Polen) ist wieder gestattet, auch die Rückreise nach Brandenburg stellt kein Problem dar, der Aufenthalt in Vorpommern ist hingegen zeitweilig untersagt. Zugegeben: dies ist eine neue und überraschende Erfahrung. Dass eine Landesgrenze – im konkreten Fall die zwischen Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern – zu einer Barriere wird, hatte kaum jemand erwartet.
Territorialität, territoriale Wahrnehmungen und territoriale Kategorien des Denkens werden wiederbelebt in Zeiten gesellschaftlicher Krisen. Aber diese kognitive und praktische Limitierung verläuft nicht ohne Widerspruch. Die einjährige Phase der Beschränkung und Selbstbeschränkung hat in drastischer Weise in Erinnerung gerufen, wie sehr die offene Grenze zwischen Polen und Deutschland bereits zur Gewohnheit geworden war. Daran lässt sich wieder anknüpfen – und genau dies ist das erklärte Ziel vieler zivilgesellschaftlicher und künstlerischer Initiativen in der Region.
Otto Habeck ist Professor für Ethnologie an der Universität Hamburg. Er hat u.a. das Projekt „Transnational Practices in the Polish-German border region“ (zusammen mit Dr. habil. Agnieszka Halemba (Warschau)) geleitet, welches von der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung gefördert wurde.